Mythos Wachstum – Warum entflechten sich Großkonzerne wie Daimler und Siemens?

Im Dezember spaltete sich der Daimler Konzern in einen Auto- und einen Lkw-Hersteller auf. Dabei verbleiben in der Daimler AG die Mercedes Autos, während das nun selbständige Unternehmen Daimler Truck die gesamte LKW- und Bus-Sparte beheimatet. Diese Aufspaltung bzw. Entflechtung (engl. „unbundling“) dient grundsätzlich dazu, Großunternehmen in unabhängige, marktorientierte Geschäftseinheiten (Business Units) aufzuspalten. Die einzelnen Einheiten sollen für sich dann eine höhere Wettbewerbsfähigkeit dank intensiverer Anpassungsfähigkeit und harter Fokussierung auf Customer Experience und/oder Operational Excellence realisieren.
Wir kennen diese Art von Entflechtungen bereits von anderen bekannten Unternehmen aus Deutschland: Vorwiegend aus regulatorischen Gründen kam es zur Entflechtung der Deutschen Post und Telekom, von Energieversorgern und der Eisenbahn. Aus wettbewerbsorientierten Gründen entflechtet sich der Elektronikkonzern Siemens seit Jahren in einzelne Geschäfte mit deutlich mehr unternehmerischen Freiheiten, inkl. der Abspaltung (z.B. via Börsengang) ganzer Unternehmenseinheiten wie Osram, Infineon oder BSH.
Diese Entflechtung bricht mit dem früheren Prinzip der Größe und dem Wunsch nach dem Aufbau von Großunternehmen. Begründet wurde dieses Prinzip der Größe mit dem Bedarf an Mengeneffekten und der Größen- bzw. Kostendegression, dem zufolge die Stückkosten mit zunehmender Produktionsmenge sinken, weil sich die fixen Kosten auf eine größere Menge verteilen. Weitere Gründe für den Aufbau von Großunternehmen waren der Verdrängungswettbewerb sowie die Attraktivität von Marktanteilen und Marktgröße gegenüber Kunden, Arbeitnehmern, Banken, Investoren und der Politik. Doch sechs Gründe zeigen heute, wie schwerfällig Großunternehmen gegenüber wendigeren Wettbewerbern (wie Startups oder modernen Mittelständlern) sind, was gerade in Zeiten des digitalen Wandels, der Rohstoffengpässe oder des sozialen Wandels (Homeoffice etc.) zu wahren Wettbewerbsnachteilen führt:
- 1. Beschäftigung mit sich selbst
Großunternehmen drehen sich gerne um sich selbst. Sie vernachlässigen dabei ihre Märkte und Kunden. Eher dominieren - nach innen gerichtete - Programme zur Senkung der Kosten, zur Absicherung der Compliance oder persönlicher Interessen einzelner Top Manager. Diese Programme verschlingen Ressourcen und bringen oft nicht die gewünschten Erfolge. Wollen die Mitarbeiter selbst nicht in den Strudel von Re-Organisation, Rationalisierung und Re-Positionierung kommen, dann hilft der laufende Nachweis der eigenen Überbelastung, Überproduktivität und Überbedeutung als Beweis der eigenen Unabdingbarkeit. Es zählt nicht die Effektivität, sondern die reine Handlung. Am Ende sind zwar alle super beschäftigt, aber bringen das Unternehmen wenig voran. - 2. Tendenz zur Ineffizienz
Schon 1955 veröffentlichte Cyril Northcote Parkinson im Economist sein nach ihm benanntes Gesetz zum Bürokratiewachstum. Es lautet: „Arbeit dehnt sich in genau dem Maß aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht.“ Unabhängig von angestrebten Zielen scheinen Systeme eine innere Tendenz zum Wachstum, aber nicht zu mehr Effizienz und Flexibilität zu haben. Oder mit anderen Worten: Organisationen werden immer größer, weil jeder Chef möglichst viele Mitarbeiter unter sich haben will. Doch bereits der preußische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz nannte in seinem grundlegenden Strategiekonzept zur Kriegsführung die „Überlegenheit der Zahl“, also die mögliche Überlegenheit einer Armee dank ihrer Größe, eine gescheiterte Theorie. Vielmehr müsse es ein Kriegsherr verstehen, auf ständige Ungewissheiten und Unsicherheiten flexibel, mutig und konsequent zu agieren. - 3. Je größer, desto komplexer
Menschen sind nicht für Komplexität gemacht. Aber je größer eine Organisation ist, desto größer ist die Komplexität an Abhängigkeiten, Aufgaben, Dokumentationen, Haftung, Key Performance Indikatoren, Kompetenzen, Personen, Prozessen, Strukturen, Terminen und Verantwortungen. Wer soll dies alles noch überschauen? Da lebt es sich am besten mit festen Arbeitsabläufen, klaren Regeln und starren Strukturen, um den Überblick zu behalten und ein pseudo-effizientes Arbeiten zu ermöglichen. Dies behindert jedoch jegliche Veränderungen, Kreativität und Innovationen. - 4. Trägheit der Masse
Menschen wollen meist keine Veränderungen. Sie reden zwar davon, aber wehe, wenn die Veränderung wirklich geschieht. Kommen nun größere Menschengruppen wie in Großunternehmen zusammen, dann führt die Trägheit der Masse zu immer größeren Barrieren gegen Neuerungen. Innovationen aber bedingen den Wandel. So genannte Produkt-, Prozess-, Markt-, Geschäftsmodell- oder gar Organisationsinnovationen gestalten bestehende Abläufe und Strukturen neu, was nicht jedem Betroffenen gefällt. Die Antwort sind Widerstände von offenem Widerspruch, Ablehnung bis zur versteckten Blockade. - 5. Egokultur und Silodenken
Egoismus ist menschlich. Je größer und oft unpersönlicher das Unternehmen jedoch ist, desto mehr kann der eigene Egoismus ausgelebt werden. Dann heißt es: zuerst ich, dann meine direkte Organisationseinheit (aufsteigend: Team, Abteilung, Bereich) und dann erst das Großunternehmen. Dies führt zu Silodenken, in welchem sich Bereiche nicht mehr unterstützen oder gar gezielt gegenseitig ausspielen. Egal ob Angestellte oder Führungskräfte: Man spricht von bereichsübergreifendem Handeln, erlebt aber Abteilungs-Egoismus, eine Vielzahl von Fürstentümern und eine fehlende Identität für das Ganze. - 6. Konsenskultur
Kommt es dann doch zu einer mehr oder weniger freiwilligen Zusammenarbeit zwischen Abteilungen, dann herrscht eine Konsenskultur. Es gilt nicht die Suche nach der sachlich besten Lösung, sondern der Kompromiss für die am einfachsten umsetzbare Lösung. Der Weg zum Konsens ist geprägt von langen (nun auch virtuellen) Marathon-Meetings, da man alle Betroffenen zu Beteiligten macht, sowie ausschweifenden Entscheidungsvorbereitungen, basierend auf ausführlichen Analysen und Business Plänen. Denn alle Aspekte sollen schon heute berücksichtigt werden, auch wenn sie noch gar nicht zu greifen sind. In der Zwischenzeit aber hat sich der Markt weiterentwickelt, doch die (überalterten) Entscheidungen werden weiter umgesetzt.
Braucht es gar kein Wachstum?
Nein: Unternehmen benötigen Wachstum – allerdings ein gesundes Wachstum im Rahmen der Kernkompetenzen und mit Fokus auf die Ziele Rentabilität und Liquidität. Dazu gehört beispielsweise das Erreichen von kritischen Massen im Absatz aber auch im Einkauf, damit die vorhandenen oder geplanten Produktionsprozesse optimal ausgelastet sowie kritische Preisschwellen auf der Nachfrageseite bedient werden können. Aber es ist gut möglich, dass diese kritischen Massen bereits bei konkreten Geschäftsfeldern erreicht wurden und daher ein weiteres Wachstum unrentabel wäre.
Unternehmen müssen aber vor allem mit Innovationen wachsen, um langfristig zu überleben! Als Kostenführer benötigt man regelmäßige Prozess- und Marktinnovationen, als Nutzenführer Produkt- und Geschäftsmodellinnovationen. Mit anderen Worten: Kosten- und Nutzenführer müssen sich immer weiterentwickeln, ansonsten verlieren sie ihre Wettbewerbsfähigkeit. Viele ehemals beliebte Unternehmen vernachlässigten dieses gesunde Wachstum und orientierten sich nur an Absatz- bzw. Umsatzwachstum, wie beispielsweise die ehemaligen Wachstumsstars Palm Handhelds, Commodore Computer, Nokia Telefone, AOL Internet oder Loewe Entertainment.
Es gilt ein gesundes Wachstum im Rahmen von Erneuerungen und Innovationen! Ganz wie in der Natur: Die meisten Pflanzen und viele Zellen erneuern sich regelmäßig. Laubbäume, Blumen und Sträucher lassen im Frühjahr neue Knospen und Sprösslinge wachsen. Verwundete Hautzellen regenerieren sich – mehr oder weniger – von selbst. Erst ein unkontrolliertes Wachstum, wie bei Krebszellen, wird zur existentiellen Gefahr.
Nicht mehr die Größe ist ein Erfolg im digitalen Wandel, sondern die Anpassungs- und Umsetzungsfähigkeit an Marktveränderungen, wie neue Technologien, Kundenbedürfnisse, Regularien, Versorgungsengpässe und neue Wettbewerber. Daher sprechen wir immer weniger von einer Größendegression als von einer Größenregression! Basierend auf dem Freud’schen Gedanken einer „Regression“ geht es bei der Größenregression um Abwehrmechanismen gegen Veränderungen bei Großunternehmen. Denn je größer ein Unternehmen ist, desto vielfältiger sind die Ängste der Mitarbeiter gegen Veränderungen, je aktiver sind die Abwehrmechanismen und desto schwieriger wird der Weg zur Anpassungsfähigkeit.
Und genau hier macht nun die Aufspaltung und Entflechtung, also das Unbundling, von Großunternehmen absolut Sinn. International sind es Unternehmen wie Alphabet (mit der bekannten Tochter Google) oder Gore, die dieses Prinzip einer Zellteilung vorleben. Wie die Amöben teilt sich der Hersteller der Gore-Tex Membran Gore spätestens ab einer Größe von über 200 Mitarbeitern pro Einheit in zwei neue, eigenständige Einheiten. So lassen sich kleine, eigenständige Organisationen mit hoher Effizienz führen. Bei Alphabet gilt sogar das Motto „lieber kannibalisieren sich unsere Beteiligungen gegenseitig, als dass wir von extern kannibalisiert werden“. Eine Beteiligungsholding führt dann die unterschiedlichen Einheiten und Geschäfte, ohne selbst operativ tätig zu werden.