Evotec, Varta, Gamestop & Co.: Cool bleiben, wenn die Hotspots überkochen - Börse München
Erfahrene Anleger, auf nachhaltige Rendite abzielende Investoren und Börsianer aller Art dürften sich die Augen reiben vor Verwunderung: Da katapultiert sich eine Aktie binnen zwei Wochen um fast 2.000 Prozent nach oben, bei Umsätzen, wie sie sonst allenfalls Dax-Aktien aufweisen. Was steckt dahinter? Eine Goldmine, die ein riesiges Vorkommen entdeckt hat? Ein Hightech-Unternehmen, das eine neue Erfindung zur Serienreife gebracht hat? Ein Pharmaunternehmen, das einen günstigen und 100prozentigen Wirkstoff gegen Corona entwickelt hat? Mitnichten. Eine US-Einzelhandelskette, die auf Computerspiele fokussiert ist und sich eigentlich Richtung Pleite bewegt unter dem sprechenden Namen GameStop. Denn wer kauft Onlinespiele im Laden? Hintergrund ist, dass viele Privatanleger "Robin Hood" spielen und gegen institutionelle Shortseller handeln (wollen). Inzwischen ist GameStop längst nicht mehr das einzige Unternehmen, dessen Aktie durch den Social-Media-Herdentrieb nach oben gehypt wird. Jeden Tag wird quasi eine neue Sau durchs Dorf gejagt oder, für Veganer, ein Tofu-Würfel durch die Straßen gekickt.
Zuschauen fällt schwer
Was tun in dieser Situation? Gelassen bleiben und als alter Hase zuschauen, wie Börsendebutanten schnell Kasse machen mit wenig Einsatz (an Kapital, Geduld, Wissen, Erfahrung)? Da schnappen einige Börsenfallen gleichzeitig zu, denen wir uns nur schwer entziehen können: Bei den jungen Neubörsianern die Selbstüberschätzung, bei den alten Hasen die Furcht, nicht dabei zu sein, neudeutsch FOMO – Fear of Missing Out. Auf beiden Seiten schleicht sich zudem die Gier ein und gewinnt die Oberhand. Die Aussicht auf Gewinne blockiert unser Denkvermögen, sonst würden nicht Millionen Lotto spielen, obwohl nur eine Handvoll Gewinner dabei herauskommen. Schon die Aussicht auf Gewinne löst bei uns neuronale Vorgänge aus, wie sie am ehesten mit denen beim Konsum von Kokain zu vergleichen sind. Was aber nicht bedeuten soll, dass Sie der Handel mit Cannabis-Aktien doppelt glücklich macht!
Wir sind geborene Konformisten
Ein weiterer Grund, warum es uns so schwerfällt, daneben zu stehen und gelassen zuzusehen, wie andere in ihr Unglück stürzen, ist unser Harmoniebedürfnis. Nichts ist schwieriger, als gegen den Strom zu schwimmen, weshalb sich Masse Mensch ja auch so leicht lenken lässt. Über Jahrtausende lang war konformes Handeln im Kreise Gleichgesinnter sogar überlebensnotwendig. Einzelgänger kamen um, Ötzi lässt grüßen. Auch heute gehen wir, wenn wir nicht ausgesprochene Misanthropen sind, Streitereien und Unstimmigkeiten lieber aus dem Weg, als dass wir sie vom Zaun brechen. Schließlich führt heute schon ein falsch gewähltes Wort in der öffentlichen Diskussion zu einem langanhaltenden Shitstorm – und wer will sich dermaßen überschütten lassen? Wir wollen Dabeisein bei den Gewinnern und uns nicht von der Community im Netz als Feiglinge verlachen lassen. Deshalb neigen wir dazu, bei steigenden Kursen noch auf den Zug aufzuspringen, denn auch wir wollen bei der derzeit nur virtuellen Party mittanzen. Und wenn´s denn doch schiefläuft, teilen wir uns wenigstens den Kater.
Selbstüberschätzung
Warum aber springen so viele junge, an der Börse fast gänzlich unerfahrene Anleger auf den Zug zu vermeintlich schnellem Reichtum auf? Zum einen wären da die vielen Möglichkeiten, fast ohne Gebühren auch kleinere Tranchen zu ordern, die die rasch wachsenden Neobroker im Windschatten des US-Brokers Robinhood bieten. Gepaart vielleicht mit Langeweile aufgrund des anhaltenden Lockdowns und den fehlenden Möglichkeiten, Geld anderweitig auszugeben. Es scheint mir eine neue Art von Videospiel zu sein, nur mit echtem Geld. Da seit März 2020 die Börse stetig stieg und gerade die hohe Volatilität schnelle Chancen versprach, fühlen sich viele dieser Anleger bereits als mit allen Wassern gewaschen.
In psychologischer Fachsimpelei kann diese Art von Selbstüberschätzung als Wahrnehmungsverzerrung, genauer als Attributionsfehler definiert werden. Die tollen Erfolge schreiben wir unseren eigenen Fähigkeiten zu, für etwaig eintretende Misserfolge sind entweder andere zuständig oder, soweit nicht vorhanden, missliche äußere Umstände. Diese Selbstüberschätzung – im wissenschaftlichen Terminus „Overconfidence Bias“ genannt – führt dazu, dass Menschen ihre eigenen Einflussmöglichkeiten und Fähigkeiten überschätzen. Das trifft nicht nur auf die Börse zu: Wir selbst sind die besseren Autolenker, die umsichtigeren Politiker und die kompetenteren Bundestrainer.
Spielen oder Handeln
Eine weitere typische Folge der Selbstüberschätzung ist der Wunsch, immer öfter zu handeln, die Intervalle zwischen Ein- und Ausstieg zu minimieren, denn man hat den Markt ja im Griff, weiß die Volatilität für sich zu nutzen und Traden kostet ja kaum noch etwas. Aber: Daytrading und Anlegen unterscheiden sich ganz grundsätzlich. Mit einer langfristigen, nachhaltigen Kapitalanlage hat dies nichts zu tun – aber darum geht es den meisten dieser Trader auch gar nicht. Es geht um den kurzfristigen Kick, den schnellen Gewinn. Eines ist sicher, es wird Enttäuschungen geben und viel Geld wird sich in Luft auflösen. Wenn Sie lieber draußen bleiben, das Spiel nicht mitmachen, dann trösten Sie sich mit den Worten des Erasmus von Rotterdam: „Von den Schlechten verlacht zu werden, ist fast ein Lob“. Und der hat immerhin bereits 1511 „Das Lob der Torheit“ veröffentlicht. Das Handeln an der Börse ist verglichen mit Sport und Spiel sehr nahe am Roulette und sehr weit von Schach entfernt angesiedelt. Das bedeutet aber nicht, dass Sie an der Börse Roulette spielen und blind auf eine Zahl setzen sollten – es könnte 0 dabei herauskommen!
Autor: Norbert Betz, Leiter der Handelsüberwachung an der Börse München/gettex
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