Das Tal der Tränen der Digitalisierung
In unserem neuen Buch „Die Krise kann uns mal“ formulieren Susanne Nickel und ich einen typischen Verlauf von Unternehmenskrisen anhand einer Krisenkurve. Als ich mich dann mit dieser Kurve immer mehr beschäftigte, fiel mir auf, wie gut diese Krise auch das Verhalten vieler Unternehmen mit dem digitalen Wandel beschreibt. Besonders das Tal der Tränen, welches üblicherweise mit der Phase der Einsicht einhergeht, ist ein sehr entscheidender Zeitpunkt der digitalen Transformation. Denn hier geht es um die Weichenstellung hin zu einem neuen Unternehmenserfolg oder dem Absturz in eine schleichende Unternehmenskrise bis existentielle Gefährdung.
Starten wir mit der Phase der Verneinung: Zuerst einmal ignorieren die vom digitalen Wandel Betroffenen (bewusst oder unbewusst) den Effekt, dass digitale Technologien die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Unternehmens gefährden. Ich sprach ja schon in diversen Gastbeiträgen bei 4investors von „toxischen“ Geschäftsmodellen, wo quasi das Gift ein Unternehmen bereits befallen hat, doch sich dieses Gift erst langsam ausbreitet. Mit anderen Worten: Zwar erlebt das Unternehmen jetzt noch eine gute Umsatz- und vielleicht auch Ertragslage, doch ist das Bestandsgeschäft mit seinen Produkten, Serviceleistungen, der Kundenstruktur, den Prozessen und Strukturen schon längst überholt. Erste Wettbewerber haben sich bereits mittels neuer (digitaler) Technologien und Prozesse neu erfunden, neue Marktteilnehmer (Startups) kratzen mit ihren modernen Geschäftsmodellen an dem Geschäftserfolg des Unternehmens und die Kunden ändern gerade ihre Bedürfnisse und Kaufgewohnheiten. Doch das eigentliche Unternehmen und seine Vertreter (wie Management, Außendienst, Customer Service, Entwicklung und Produktion) ignorieren die technischen Entwicklungen und daraus resultierenden, veränderten Kundenprämissen.
Doch irgendwann lässt sich diese Verneinung (hoffentlich!) nicht weiter aufrechterhalten und es folgt die Phase der Einsicht. Auf einmal realisiert man, dass die eigene Wettbewerbsfähigkeit (seit längerer Zeit) leidet. Man ist nicht mehr in der Lage zu wettbewerbsfähigen Preisen zu produzieren oder die Kunden mit von ihnen honorierten Mehrwerten und Alleinstellungsmerkmalen zu begeistern. Etablierte oder junge Wettbewerber aus dem In- und Ausland verfügen über neue Kostenstrukturen, neue Leistungen oder gar über neue Geschäftsmodelle, die noch mehr den Bedarf der Kunden entsprechen.
Aber genau hier kommt nun ein Hauptproblem der digitalen Transformation: Viele Betroffene landen erst einmal in einem Tal der Tränen. Man erstarrt in seiner eigenen Rat- und Tatenlosigkeit, ist gefangen in seinen bisherigen Denkmodellen, verfällt in Angst und Trauer. Oft sucht man nun die Schuld bei den anderen (Coping) oder begibt sich in eine reine Opferrolle. Betriebswirtschaftlich führt das Tal der Tränen zu einem Sumpf der Vergleich- und Austauschbarkeit. Dabei gibt es genügend Wege zu einer neuen Wettbewerbsfähigkeit, wie meine übrigen Gastbeiträge bei 4investors immer wieder verdeutlichen.
Wer diese Wege zu einer neuen Wettbewerbsfähigkeit angehen will, der begibt sich in die Phase des Aufbruchs. Das Unternehmen, das Management und seine Mitarbeiter sagen „ja“ zur Digitalisierung und der digitalen Transformation. Man fängt an, mit der Situation konstruktiv umzugehen, und dabei entwickelt sich eine Neugier auf das Neue und die damit verbundenen Handlungen. Moderne (digitale) Technologien werden als Chancen für neue Geschäfts- und sogar auch Führungsmodelle verstanden. Der Prozess des bewussten Erprobens, Erlernens und kleiner Erfolge schreitet voran und überzeugt immer mehr interne und externe Mitstreiter aus einem Unternehmen. Dank Geduld und Ausdauer wächst die Erkenntnis, dass die digitale Transformation auch viel Gutes für ein Unternehmen bereithält.
Die vierte Stufe ist die Phase des Erfolges mit immer mehr positiven Rückmeldungen vom Markt und wachsenden Umsätzen und Gewinnen. Doch Achtung: Hier gilt leider auch die Erkenntnis „Erfolg killt Innovation“. Denn der Erfolg kann Menschen und Unternehmen verführen. Wir reden hier gar von der Arroganz des Erfolges. Denn wie in der ersten Phase fallen erfolgreiche Unternehmen gerne in das Muster, erneut sich ändernde Märkte zu verkennen. Man übersieht neue Wettbewerber, die das eigene Geschäftsmodell kopieren, neue Konsumententrends, oder man verkennt das Potential sich weiterentwickelnder Technologien und Produktionsprozesse. Der bisherige Kundennutzen verliert an Attraktivität, Kunden geht verloren, Wettbewerber überholen die eigene Firma, der Auftragseingang bzw. Umsatz geht zurück und die Rentabilität und Liquidität fallen in einen gefährlichen Bereich. Dies ist mit ein Grund, warum am Ende doch 80 bis 90 Prozent der Startups scheitern, oder warum einst erfolgreiche (Technologie-) Unternehmen wie Grundig, AEG, Palm Computers, LOEWE oder ATARI in der Zwischenzeit mehr oder weniger verschwunden sind.
Fassen wir also zusammen: Bei der digitalen Transformation durchlaufen Unternehmen üblicherweise die vier Phase einer Krisenkurve, wie sie auch bei klassischen Wirtschaftskrisen zu sehen ist. Aber das ist darf überhaupt nicht erstaunen, denn der digitale Wandel ist einer der Ursachen für toxische Geschäftsmodelle und schleichenden Unternehmenskrisen. Das dabei ein bewusstes oder unbewusstes Tal der Tränen durchlaufen wird, darf auch niemanden erstaunen. Wir Menschen reden gerne von Veränderungen, doch wehe sie finden wirklich statt. Dann wirken auf die Betroffenen emotionale Barrieren, Ängste und Widerstände – sogar noch zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Während der Unternehmer bzw. das Top Management vielleicht schon ihr Tal der Tränen überwunden haben, erreicht dieses gerade erst die nächste Gruppe der Führungskräfte. Wir reden hier von einem asynchronen Verlauf der Krisenkurve, da manche Betroffenen früher mit der Einsicht der Krise konfrontiert werden, als andere. Aber nur wenn die Leistungsträger mehr und mehr das Tal der Tränen verlassen können, schafft man die Basis für den Aufbruch und die digitale Transformation.