Bank J. Safra Sarasin: Zwischen Deflationsängsten und exzessiven Überschüssen
Es ist wieder die Jahreszeit, in der auf der Straße, in den Talkshows und Feuilletons Arbeitsmarkt-, Gerechtigkeits- und Umverteilungsdebatten geführt werden. Wie hoch ist der gerechte Lohn, die gerechte Steuerbelastung, schaden oder helfen Mindestlöhne? Fragen, die jede Gesellschaft für sich beantworten muss. Die Antworten werden gesellschaftliche Normvorstellungen reflektieren und nicht in erster Linie ökonomische Effizienzoptimierungen.
Die Lohnentwicklung ist dennoch derzeit auch ein extrem wichtiges makroökonomisches Thema. Gegenwärtig steigen die Löhne selbst in den USA und UK, wo das Wachstum stark war und die Arbeitslosenquoten in den letzten Jahren deutlich gefallen sind, so gering an, dass die Inflationsziele der Notenbanken bislang nur mit Niedrigzinsen erreichbar erscheinen. Oder positiv formuliert: Dank Lohnzurückhaltung wurden in einem schwierigen ökonomischen Umfeld Millionen von Jobs in diesen beiden Ländern geschaffen.
Das ist sicherlich der Entwicklung in Frankreich vorzuziehen, wo kaum Beschäftigungsaufbau stattgefunden hat. Kaum steigende Löhne mögen aber dennoch ein unerwünschtes globales Phänomen werden. Es macht den Anschein, dass global mobiles Produktions-Knowhow gekoppelt mit flexiblen Arbeitsmärkten einen Großteil der Arbeitnehmer globaler Konkurrenz aussetzt, der Lohnsteigerungen vor allem im unteren Teil der Lohnpyramide stark begrenzt. Im individuellen Kampf um Marktanteile eines Unternehmens und den Erhalt von Arbeitsplätzen – also mikroökonomisch – ist das auch nachvollziehbar. Aber führt das auch zu makroökonomisch optimalen Ergebnissen?
Das deutsche Beispiel zeigt, dass dies leider nicht der Fall ist. Optimal wäre, wenn die Inflationsentwicklung in Euroland auf der Höhe der EZB-Norm von knapp 2% läge. Der IWF prognostiziert dagegen, dass dies bis zum Ende des Jahrzehnts in Deutschland nicht der Fall sein wird – und damit für die Währungsunion schon gar nicht, in der einige Länder über eine höhere Wettbewerbsfähigkeit ihre Arbeitslosigkeit weiter abbauen müssen. Es resultiert eine zu niedrige Inflationsrate und eine Niedrigzinspolitik, mittels der die Erträge deutscher Spareinlagen einbrechen. Zusätzlich führen niedrige Löhne und die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu einem deutschen Leistungsbilanzüberschuss, dass der IWF für dieses Jahr auf 8,5% des BIP schätzt. Deutschland wird dadurch zum global größten Kapitalexporteur. Gewinnbringend angelegt wird dieses Kapital häufig nicht, wie die Subprime- und die Griechenlandkrisen zeigen. Es ist damit wohl kaum wohlfahrtsteigernd. Vor der Währungsunion hätte eine stärkere D-Mark als Korrektiv gewirkt. Nun bleibt nur die Lohnpolitik, die den exzessiven Leistungsbilanzüberschuss begrenzen kann. So begrüßenswert die Einführung des Mindestlohnes und die zuletzt höheren Tariflohnabschlüsse sind; um die Deflationsgefahren und die Ungleichgewichte in Euroland zu begrenzen und die Währungsunion zu stabilisieren, könnte es sogar noch etwas mehr sein. Und von höheren Einkommen würde auch die deutsche Inlandsnachfrage wieder profitieren.