Nord LB – Großbritannien: Harmonischer Schlussakkord vor dissonanter Zukunftsmusik

Das Office for National Statistics in London hat heute eine erste Vorausschätzung zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Vereinigten Königreich im zurückliegenden II. Quartal veröffentlicht. Demnach hat sich die Wirtschaftsleistung Großbritanniens gegenüber dem Vorquartal saisonbereinigt recht kräftig um 0,6% Q/Q ausgeweitet und das Vorjahresniveau damit um 2,2% Y/Y übertroffen. Dieser Beleg für ein bis zur Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit sehr robusten Wirtschaftswachstum ist ebenso überraschend wie erfreulich.

Die heutigen Informationen zur Konstitution der britischen Wirtschaft stehen noch mehr als sonst im Mittelpunkt des Marktinteresses. Sie geben Hinweise darauf, in welchem Umfang die Verunsicherung hinsichtlich des Ausgangs des Referendums zur EU-Mitgliedschaft am 23. Juni bereits im Vorfeld zu einer Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Aktivität geführt hat. Es gab zahlreiche Anzeichen dafür, dass vor allem die Investitionsentscheidungen der britischen, aber auch ausländischen Unternehmen vor dem Referendum zurückgestellt worden sind. Aus den nun veröffentlichten Daten ist dies nicht ersichtlich.

In der entstehungsseitigen Aufgliederung zeigt sich, dass die im Vereinigten Königreich besonders schwergewichtigen Dienstleistungssektoren um 0,5% Q/Q und die Industrie sogar um 2,1% Q/Q expandieren konnten. Lediglich die Bauproduktion verringerte sich um -0,4% Q/Q. Zusammengenommen ist dies wahrlich nicht das befürchtete Schreckensbild einer von der Angst vor dem Brexit bereits im Vorfeld gelähmten Volkswirtschaft.

Angesichts der nach der Brexit-Entscheidung erhobenen Stimmungsindikatoren, die regelrecht ins Bodenlose abgestürzt sind, gehen wir allerdings davon aus, dass die britische Wirtschaft schon im III. Quartal in eine Anpassungsrezession mit negativen Wachstumsraten abgleiten wird. Mit dem Wirtschaftswachstum sollte es also erst einmal vorbei sein. Umso erfreulicher für die Bilanz des Gesamtjahres 2016, dass sich das erste Halbjahr zumindest so robust präsentiert hat.

Das Britische Pfund konnte von den heutigen Zahlen ebenso wenig profitieren wie die der britische Aktienmarkt. Ein Indiz mehr dafür, dass Finanzmärkte Zukunftserwartungen preisen – und die sind für das Inselreich alles andere als freundlich.

Für die Bank of England wird es darauf ankommen, wie dissonant sich die Zukunftsmusik nach dem heutigen harmonischen Schlussakkord aus der Zeit vor dem Brexit-Votum anhören wird. Bezüglich ihrer Leitzinspolitik befindet sie sich in einer schwierigen Zwickmühle zwischen einem schwachen Pfund und wechselkursgetrieben höheren Inflationsraten auf der einen und einer Erosion der wirtschaftlichen Aktivität auf der anderen Seite.

Fazit: Die heute veröffentlichte Vorausschätzung zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Vereinigten Königreich im zurückliegenden II. Quartal ist ebenso überraschend wie erfreulich. Eine Lähmung der wirtschaftlichen Aktivität bereits im Vorfeld des Brexit-Votums ist daraus jedenfalls nicht ablesbar. Vielmehr klingen diese Informationen wie ein harmonischer Schlussakkord vor einer nun beginnenden dissonanten Zukunftsmusik. Wir erwarten bereits im III. Quartal ein Abgleiten der britischen Wirtschaft in eine Brexit-bedingte Anpassungsrezession. Die Bank of England ist in dieser Situation in einer schwierigen Zwickmühle.

Disclaimer: Dieser Text ist eine Kolumne der Nord LB. Der Inhalt der Kolumne wird von 4investors nicht verantwortet und muss daher nicht zwingend mit der Meinung der 4investors-Redaktion übereinstimmen. Jegliche Haftung und Ansprüche werden daher von 4investors ausdrücklich ausgeschlossen!