Nord LB – Nach dem EU-Gipfel: Der BoJo-Faktor lässt den Brexit wahrscheinlicher werden
Insbesondere am Devisenmarkt blicken die Marktteilnehmer momentan mit großem Interesse auf die im Vereinigten Königreich kontrovers geführte Debatte bezüglich eines möglichen Austritts des Landes aus der Europäischen Union. Zum Abschluss der vergangenen Woche rückten in diesem Kontext zunächst natürlich vor allem die Diskussionen in den Fokus der Finanzmärkte, die anlässlich des EU-Gipfels in Brüssel bezüglich des „Brexit-Deals“ von den anderen EU-Regierungschefs mit den britischen Entscheidungsträgern geführt worden sind.
Verhandlungsteilnehmer diktierten der Presse bereits im Laufe der Gespräche in die Feder, dass es vor allem in der Frage der Kürzung von Sozialleistungen für EU-Einwanderer nach Großbritannien erst ein Drama und dann eine Einigung geben werde. Diese Einschätzung hat sich mittlerweile auch als völlig korrekt erwiesen. Die offenbar vor allem mit den osteuropäischen Regierungschefs geführten kontroversen Gespräche waren natürlich einerseits deren Interessen geschuldet. Man wollte dem britischen Premierminister David Cameron aber sicherlich auch eine politische Bühne bereiten, die diesem bei seiner Bevölkerung ein Werben für den Verbleib in der EU vereinfachen sollte. Auch in den anderen Ländern der EU hat wohl kein Verantwortlicher wirklich ein Interesse an einem Austritt der Briten aus der Union. Käme es nämlich zum Brexit, so würde dieser an den Finanzmärkten Spekulationen über die Robustheit der dann schrumpfenden Gemeinschaft auslösen. Der Plan war also offenbar, Cameron als Sieger aus harten Verhandlungen nach London zurückkehren zu lassen.
Ausgerechnet der Londoner Bürgermeister Boris Johnson (aka „BoJo“) macht seinem Parteifreund nun aber einen Strich durch die Rechnung – und ruiniert quasi im Handstreich ein wahrscheinlich gut ausgeklügeltes Marketingkonzept des Chefs der Konservativen. Nach dem EU-Gipfel stellte sich Johnson nämlich medienwirksam an die Seite der Befürworter eines Austritts aus der EU. Er äußerte sich zudem recht kritisch zu den Verhandlungsergebnissen, die Cameron in Brüssel für das Königreich erzielen konnte.
Vor dem EU-Gipfel waren nach Meinungsumfragen scheinbar circa 1/3 der Bevölkerung für einen Verbleib des Königreichs in der EU und etwa 1/3 der Briten gegen die Mitgliedschaft in der Union. Der Rest präsentierte sich noch unentschlossen. Das Votum des Londoner Bürgermeisters kann aufgrund seiner Popularität durchaus einen Einfluss auf das Ergebnis der inzwischen für den 23. Juni angesetzten Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft des Landes haben. Nach Auffassung vieler Beobachter verfügt Johnson nämlich durchaus über das notwendige politische Gewicht, viele der bisher noch unentschlossenen Briten zu EU-Gegnern werden zu lassen.
Obwohl der EU-Gipfel zu den wahrscheinlich geplanten Ergebnissen geführt hat und der britische Regierungschef entsprechend nach hartem Kampf als Sieger aus Brüssel in seine Heimat zurückkehren konnte, ist die Wahrscheinlichkeit eines Brexit zuletzt dennoch gestiegen. Dies ist eine direkte Konsequenz des Handelns von Boris Johnson. Der charismatische Bürgermeister Londons stellt sich nämlich offen gegen seinen aktuellen Parteichef. Aufgrund seiner Popularität mag diese Nachricht noch unentschlossene Briten in größerem Umfang zu EU-Gegnern werden lassen. Diese Entwicklung in London lastet auf dem Pfund, welches zum Start der neuen Woche gegen die US-Währung unter Abwertungsdruck kommt. Damit löst die europäische Politik wieder einmal zusätzliche Volatilität an den Devisenmärkten aus.