Vontobel - Sagenhaftes China: Was die Wirtschaft weiter antreibt
Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas in den letzten Jahrzehnten ist zu einem großen Teil der Übernahme kapitalistischer Prinzipien zu verdanken. Die aktuelle Reformagenda könnte das Reich der Mitte auf dem Weg zu einem freien Markt weiter voranbringen. Bei korrekter Umsetzung dürften die geplanten Maßnahmen nicht nur für ein nachhaltigeres Wachstum in den kommenden Jahren sorgen, sondern auch den Weg für eine Neubewertung chinesischer Aktien ebnen.
"Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse." Diese chinesische Redensart – oft verwendet von Deng Xiaoping, einem früheren starken Mann des Riesenreichs – versinnbildlicht den sprichwörtlichen Pragmatismus der Chinesen bei Geschäftsbeziehungen mit dem Westen. Deng leitete eine neue Ära ein, indem er Ende der 1970er-Jahre Marktreformen einführte, die schließlich ein atemberaubendes jährliches Wirtschaftswachstum von 9,3 Prozent zur Folge hatten. Allem Anschein nach wird die derzeitige neue chinesische Führungsgeneration nicht von Dengs Weg abweichen. Die Rolle Chinas in der Welt ist gar nicht hoch genug zu bewerten: Kein anderes Land hat eine höhere Bevölkerungszahl, und nur die US-Wirtschaft ist größer. Der Einfluss des Landes auf die Rohstoffmärkte sucht seinesgleichen. Es verfügt über die größten Devisenreserven und ist der wichtigste Gläubiger der USA, noch vor Japan. Die hohen Staatsausgaben im Jahr 2009, die 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprachen, trugen wesentlich zur Stabilisierung der Weltwirtschaft bei, die durch den Zusammenbruch der US-Investment-Bank Lehman Brothers gelähmt war. Seitdem übersteigt das Kreditwachstum in China das Wirtschaftswachstum um das Vierfache. Die Investitionsausgaben bewegen sich noch immer auf einem unhaltbar hohen Niveau von 46 Prozent des BIP, und in der Schwerindustrie herrschen beträchtliche Überkapazitäten. Das heißt, das gegenwärtige Wirtschaftsmodell ist nicht nachhaltig.
Eine Verneigung vor den Marktkräften
In Anbetracht einer drohenden Verschlechterung der Wachstumsdynamik hat die neue Führung einen ambitionierten Plan entwickelt, mit dem die Mängel behoben werden sollen. Reichweite, Tiefe und mögliche Auswirkungen des Programms sind beeindruckend: So wurden 16 Bereiche mit Reformbedarf ermittelt und 60 Maßnahmen vorgeschlagen, die bis zum Jahr 2020 greifen sollen. Sie decken ein breites Feld an Aufgaben ab wie die Deregulierung der Märkte, die Liberalisierung von Währung und Zinsen, soziale Sicherheit und Demografie sowie eine Landreform. Dabei werden auch heikle Themen angegangen wie der Kampf gegen die Korruption, die Förderung der Rechtsstaatlichkeit, die Verbesserung der Effizienz der staatlichen Unternehmen sowie die Abschaffung von Arbeitslagern.
Von großer Bedeutung ist ferner, dass die Führung die "entscheidende Rolle" betont, die der Markt bei der Verteilung der Ressourcen spielen wird. In der bisherigen Sprachregelung kam dem Markt lediglich eine "untergeordnete Rolle" zu. Natürlich ist die tatsächliche Umsetzung des Reformpakets entscheidend. Dabei sind viele Herausforderungen zu meistern. Das Einsetzen einer hochrangigen Reformkommission unter dem Vorsitz von Präsident Xi Jinping untermauert jedoch das Bekenntnis zu den Reformen und dürfte dazu beitragen, etwaige Interessenskonflikte zwischen den Ministerien zu lösen.
Zunehmende Attraktivität chinesischer Titel
Trotz des rapiden Wirtschaftswachstums des Landes befinden sich chinesische Aktien seit 2007 in einem Bärenmarkt. Ausgehend von übertrieben hohen Bewertungsniveaus bewegt sich die Rentabilität des investierten Kapitals seitdem insgesamt nach unten. China ist ein Paradebeispiel dafür, dass ein starkes Wirtschaftswachstum nicht unbedingt mit einer überlegenen Performance der Aktienmärkte einhergeht. Entscheidend ist, inwiefern sich das Wirtschaftswachstum in Form von Gewinnen für die Aktionäre auszahlen wird. Diesbezüglich schneidet China aus verschiedenen Gründen bislang schwach ab. Nicht zuletzt liegt dies daran, dass die Manager von staatlich kontrollierten Unternehmen andere Prioritäten haben, als den Shareholder Value zu maximieren. In diesem Zusammenhang sehen die Reformpläne vor, die Leistung dieser Unternehmen zu verbessern, um so die Ausschüttung von Bardividenden an das soziale Sicherungssystem zu erhöhen. Ein weiterer Punkt ist die Einführung geeigneter Anreize, damit die Unternehmensführungen bessere Kapitalrenditen erwirtschaften.
Es lässt sich zwar nur schwer vorhersehen, ob und wann diese Pläne zu einem stabilen oder stetig steigenden Mehrwert führen werden. Die aktuelle Bewertung (das Kurs-Gewinn-Verhältnis des MSCI China für 2014 beträgt 9,5) nimmt das verbesserte Ertragsmusters der "China AG" sicherlich nicht vorweg. Daher halten wir die langfristigen Aussichten des chinesischen Aktienmarkts mit Blick auf das Risiko-Ertrags-Verhältnis für äußerst attraktiv.
Global kaum Alternativen zu Aktien
In den vergangenen Wochen haben sich die Inflationserwartungen für die Industrieländer auffällig stark zurückgebildet. Verantwortlich hierfür waren die niedrigeren Rohstoffnotierungen und die gedämpfte Teuerung bei Gütern und Dienstleistungen. Vor diesem Hintergrund können die Zentralbanken an ihrer extrem lockeren Geldpolitik weiter festhalten, was wiederum den Wertschriftenkursen zugutekommt. Obwohl die Bewertungen nicht mehr besonders niedrig sind, gibt es in einem solchen Umfeld kaum Alternativen zu Aktien. Entscheidend ist es, weiterhin selektiv vorzugehen und vielversprechende Themen ausfindig zu machen, bei denen das Aufwärtspotenzial noch nicht eingepreist wurde.